39. Kapitel

 

Die Ketten rasselten, als Nell ihre Beine anzog, und mehrere Vampire blickten sich neugierig zu ihr um. Sie zuckte zusammen und blieb ganz still auf dem Boden sitzen.

Die im Fieberwahn gesprochenen Worte ihrer Mutter waren wahr geworden. Sky Witherspoon hatte von Männern und Frauen erzählt, die Blut tranken, Gedanken lesen konnten und schneller als der Wind waren. Sie hatte von einer Blutburg gefaselt und von Verteidigern der Menschheit. Sie hatte zu ihrer Tochter gesagt, dass diese Monster kommen und sie holen würden, aber das hatte Nell ihr natürlich nicht geglaubt. Sie hatte, wie alle anderen, geglaubt, dass ihre Mutter wahnsinnig geworden war. Aber Sky Witherspoon war nicht wahnsinnig gewesen. Sie hatte eine dunkle Zukunft vorausgesehen und ihre Tochter davor warnen wollen.

Nell hätte erleichtert sein sollen: Ihre allergrößte Angst hatte sich mit dem Erscheinen der Vampire in Luft aufgelöst. Sie würde nicht verrückt werden! Ihre Gabe würde sie nicht in den Wahnsinn treiben, wie sie befürchtet hatte, denn ihre Mutter war auch nicht wahnsinnig geworden. Ja, sie war erleichtert, hätte gar jauchzen können vor Freude - wenn sie nicht entführt und an eine Wand gekettet worden wäre.

Nell holte tief Luft und versuchte ihre Panik zu bezwingen. Wenn sie Angst hatte, konnte sie sich nicht konzentrieren, konnte nicht sehen, was die Zukunft bringen würde. Sie musste ruhig bleiben. Zusammengekauert musterte sie verstohlen ihre Umgebung. Sie befand sich in der großen Halle der alten Burg, deren weitläufige Fläche mit kalten Steinfliesen gepflastert war. Lange Holztische standen an den Saalrändern, und ganz vorne befand sich der prächtigste aller Tische, mit einem thronähnlichen Sessel. In der Mitte des Raums war Platz gemacht worden für vierzig Stühle, die einen großen Kreis bildeten.

Nell hatte die Stühle bereits mehrmals gezählt, weil sie das von ihrer Angst ablenkte. Doch inzwischen waren vereinzelte Vampire aufgetaucht und hatten an den Tischen Platz genommen. Mehr und mehr tauchten auf, und Nell begann wieder zu zittern. Ihr Blick huschte immer wieder zu den leuchtend roten Tischdecken. Seit einer halben Stunde betete sie, dass bald Kellner erscheinen würden, um die Tische zu decken. Doch da dies nicht geschah, konnte sie nicht umhin zu fürchten, dass die Versammelten kein Besteck und keine Teller brauchten, um das zu verspeisen, was auf den Tisch kommen würde ...

Ein schriller Schrei ertönte, und Nell bekam eine Gänsehaut.

Der Schrei war aus dem ersten Stock gekommen. Nell schaute nach oben. Der Saal besaß an beiden Enden eine Galerie, von der aus man - durch hohe Spitzbogenfenster abgetrennt - in die große Halle hinabschauen konnte. Entsetzt verfolgte Nell, wie die Schreie lauter wurden und ein bulliger Mann auftauchte, der an einer Kette drei junge Frauen hinter sich herzog. Die Mädchen hatten weiße, nachthemdartige Gewänder an, und ihr Haar floss ihnen offen über den Rücken. Alle drei wehrten sich mit Leibeskräften, doch der riesige Vampir fletschte grinsend seine Fangzähne.

Nell schluckte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Die jungen Frauen verschwanden für einen Moment hinter einer dicken Säule, dann tauchten sie oben an der ausladenden Steintreppe auf, die zur Halle hinabführte.

»Bitte nicht! Bitte!«, flehte die Älteste, während der Vampir sie die Treppe hinabzerrte. »Meine Schwestern und ich, wir dachten, die Burg sei unbewohnt! Wir wussten doch nicht, dass hier jemand ist, sonst wären wir nie hergekommen!«

Ihre jüngeren Schwestern, die, wie Nell nun sah, nicht älter als zehn sein konnten, heulten und schrien.

Der brutale Wärter nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Nells Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte schreien, toben, den Mann anflehen, die Mädchen freizulassen, aber ihre Stimme versagte. Weitere Vampire betraten den Raum, alle in schwarze Umhänge gehüllt, unter denen ihre nackten Füße hervorschauten. Einige warfen neugierige Blicke in Nells Ecke, und diese senkte hastig den Kopf, verbarg ihr Gesicht hinter ihren langen Haaren.

Der Wärter zerrte die schreienden Mädchen nun in die Halle. Als sämtliche Stühle - bis auf jenen am Haupttisch - besetzt waren, trat der bullige Mann mit den Mädchen in die Mitte des Raums. Entsetzt sah Nell, wie er einen Dolch zückte. Einer der Versammelten tauchte mit einer schwarzen Schale auf und stellte sie auf den großen Tisch, neben den grinsenden Mann mit dem Dolch. Die Mädchen schrien entsetzt auf.

Der Vampir zerrte an der Kette und zwang das jüngste Mädchen nach vorne. Die Älteste schrie auf und versuchte ihre jüngste Schwester verzweifelt festzuhalten. »Nein! Nein, bitte nicht!«

Er versetzte ihr mit dem Handrücken eine Ohrfeige, und das Mädchen wurde zu Boden geschleudert. Nell konnte es nicht mehr ertragen. Sie wusste nicht, was sie mit der Kleinen vorhatten, wusste nicht, ob sie diese Nacht überleben würde. Tapfer rappelte sie sich auf die Beine.

»Nehmt mich!«, rief sie.

Eine tiefe Stille trat ein. Keiner rührte sich. Sämtliche Blicke waren auf sie gerichtet, einige voller Zorn, andere hungrig.

»Aber bitte, gern«, verkündete eine glatte Stimme. Nell starrte zur Treppe, wo in diesem Moment ein blonder Mann auftauchte. Er hatte jemanden bei sich. Nell schaute genauer hin und erschrak. Es war Mikhail! Er stand an der Seite des Blonden, als wären sie alte Bekannte. Nell hätte es beinahe geglaubt, doch dann bemerkte sie den gequälten, sorgenvollen Ausdruck in Mikhails Augen.

»Nikolai, kette die Dame los, sie möchte an unserer Zeremonie teilnehmen!«

Ein Mann kam hinter einem der Tische hervorgesprungen und eilte zu ihr. Das musste Nikolai sein, dachte Nell. Grinsend beugte er sich über sie, packte die Kette und riss sie kurzerhand aus ihrer Verankerung in der Wand. Als er ihren geschockten Gesichtsausdruck sah, lachte er hämisch. Dann gab er ihr einen Schubs zur Hallenmitte hin.

Mikhail nahm neben dem Blonden Platz, der sich in dem thronähnlichen Sessel niedergelassen hatte. Offenbar war er der Anführer dieser Bande. Nell erinnerte sich an ihre Vision: Das musste Ramil sein. Die drei Mädchen wurden beiseite gezerrt, und Nell wurde gezwungen, sich vor Ramil aufzustellen. Ihr Blick huschte automatisch zu Mikhail. Seine Miene war angespannt, undurchdringlich.

»Freunde«, hob Ramil an, »in zwei Tagen werden die Verräter, die sich Clanführer nennen, in unserer Hand sein, und wir werden das Urteil über sie fällen. Aber heute Nacht wollen wir den Tod von drei großartigen Vampiren betrauern und dem Leben huldigen!«

Nell sah Mikhails Augen zornig aufblitzen, und ihr Magen krampfte sich vor Sorge um ihn zusammen.

»Aber jetzt«, fuhr Ramil fort, »wollen wir unsere charmante Blutspenderin nicht länger warten lassen. Tritt vor.«

Die Vampire begannen zu lachen, und Nells Blick hing entsetzt an ihren Fangzähnen. Nikolai gab ihr einen Stoß in Richtung Ramil, der die Hand nach ihr ausgestreckt hatte. Seine Augen funkelten, braune Augen, die sich von den schwarzen seiner Genossen unterschieden.

»Den Arm, wenn ich bitten darf«, befahl er grinsend.

Nell sah, wie der Vampir, der die Mädchen hergebracht hatte, mit seinem Dolch vortrat, aber Ramil schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, diese reizende junge Dame hat sich freiwillig gemeldet. Sie will uns nur helfen. Kein Grund, ihr unnötige Schmerzen zuzufügen.«

Unnötige Schmerzen. Nell blickte sich schaudernd um. Die wunderschöne Frau, die zu Ramils Linker saß, funkelte sie wütend an, mehrere andere Vampire lächelten, und Mikhail - sein unmerkliches Nicken gab ihr Kraft. Sie trat einen Schritt vor, bis ihre Oberschenkel den Tischrand berührten, und hielt Ramil ihren Arm hin.

Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über den Raum. Ramil führte ihr Handgelenk an seinen Mund, die Augen durchdringend auf sie gerichtet. Nell stockte der Atem. Sie sah, wie sich diese Augen schwarz verfärbten, wie er seine Fangzähne entblößte. Behaglich schnuppernd schloss er die Augen. Nells Herz pochte vor Angst, und sie zuckte unwillkürlich zurück, aber er hielt sie fest gepackt. Ihr Blick suchte automatisch Mikhail.

»Mikhail«, flüsterte sie, in genau dem Moment, in dem der Vampir zubiss. Auch Nell schloss unwillkürlich die Augen. Eigenartige Gefühle durchströmten sie, widerstreitende Gefühle. Das Blut rauschte ihr durch die Adern, ihre Haut begann zu kribbeln, und ihr wurde schwindelig. Auf einmal hörte das starke Saugen auf. Nell schlug die Augen auf und sah, dass Ramil ihr Handgelenk über die schwarze Schale hielt. Die Stille wurde nur unterbrochen durch das schwere Atmen der anwesenden Vampire und das leise Wimmern der drei Mädchen. Ihr Blut tropfte stetig in die Schale. Als der Fluss abnahm, drückte Ramil ihr Handgelenk und presste noch mehr hervor. Kurz darauf ließ er sie los.

»Danke«, sagte er höflich und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Dann bedeutete er Nikolai, die Schüssel fortzunehmen.

»Und jetzt geh zurück in deine Ecke«, befahl er gelassen.

Nell blinzelte. Ihr war ganz schwach vom Blutverlust, und sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte.

Ramil hob eine Braue. »Ich hatte eigentlich andere Pläne für dich, aber die ließen sich ändern, falls du wirklich an unserer Zeremonie teilnehmen willst?«

Erneut wurden die Mädchen nach vorne gezerrt. Nell machte den Mund auf, um zu protestieren.

»Geh, Nell. Sofort«, befahl Mikhail mit rauer Stimme. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Nell gehorchte und kehrte den Tischen den Rücken zu.

»Reizend«, hörte sie Ramil sagen. »Und nachdem ich sie gekostet habe, kann ich dir zu deinem Geschmack nur gratulieren, Mikhail. Sie ist in der Tat etwas ganz Besonderes.«

Nell zuckte zusammen, wünschte sie wäre irgendwo anders. Die Bisswunden schmerzten, und sie umklammerte ihr Handgelenk, um den Blutfluss zu stoppen.

»Also, wo waren wir? Ach ja ...«

Als die Mädchen zu schreien begannen, fuhr Nell erschrocken herum. Und dort stand sie und musste hilflos mit ansehen, wie man die Mädchen auf verschiedene Tische hob, wie gierige Hände nach ihnen griffen, ihnen die Gewänder vom Leib rissen. Nell wurde speiübel. Abermals suchte ihr Blick unwillkürlich nach Mikhail, der wie erstarrt unter den Vampiren saß. Zähne wurden in weißes Fleisch geschlagen. Starr vor Entsetzen stand Nell da, bis irgendwann, es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, die Schreie erstarben.

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